Springen wir zurück ins Jahr 1992, eine Zeit, in der es noch keine Social-Media-Feeds gab, die uns mit Katzenvideos und Filterkaffee-Bildern bombardierten. Musik war roh, echt und oft ein wenig chaotisch — genau das, was Rock und Metal groß machte. Sodom mischten damals kräftig mit und hauten uns Tapping the Vein um die Ohren.
Die Besetzung: Tom Angelripper (Bass, Gesang), Andy Brings (Gitarre) und Chris Witchhunter (Drums) — eine Truppe, die mehr Lärm machte als ein Baukran um 6 Uhr morgens. Zugegeben, Tapping the Vein war kein Chartstürmer. Weder BHs flogen, noch gab es Standing Ovations. Aber wie so oft im Leben: Manche Dinge reifen erst mit der Zeit. Und weil Sodom das genauso sehen, erscheint jetzt eine frisch aufpolierte Version des Albums. Die Wiederauflage bringt nicht nur den Sound von damals in neuem Glanz, sondern auch einen Remix von Andy Brings und Live-Material aus Tokio, Düsseldorf und Köln.
Heute ist nur noch Tom Angelripper an Bord. Kultstatus? Check. Andy Brings ist inzwischen im Punkrock zu Hause, und Chris Witchhunter rockt leider nicht mehr unter uns. Wer die Old-School-Vibes nochmal erleben will, sollte sich diese Neuauflage definitiv schnappen. Passend dazu hat Pressure-Redakteurin Mia Andy Brings zum Interview getroffen und mit ihm über Nostalgie, Metal und Sodom geplaudert.
Du kommst ja gerade auch viel rum, oder?
Andy Brings: Ja, irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin zurück bei Sodom, ohne wirklich zurück bei Sodom zu sein. Es nimmt auf jeden Fall gerade viel meiner Zeit ein, aber ich mache das wirklich gerne und es macht auch eine Menge Spaß.
Kommen wir mal zum neu gemasterten Werk. Da hast du sicherlich in den letzten Tagen schon viel darüber erzählt, aber jetzt hast du mal die Gelegenheit, es mir zu erzählen. Also, Tapping The Vein – wie war es, wieder am alten Werk zu arbeiten? Gab es da nostalgische Gefühle, die hochkamen?
Andy: Ja, es war natürlich ein richtiger Gefühlscocktail. Tapping The Vein war das erste Album, das ich jemals gemacht habe und es war das erste ikonische Album. Es war verrückt, noch einmal in die Arbeit von damals einzutauchen. Es war fast wie eine Reise zurück in die Zeit, und ich habe die ersten zwei Wochen damit verbracht, überhaupt zu verstehen, was damals auf den Bändern drauf war. Es ist einfach faszinierend, weil dieses fertige Album irgendwann wie ein Monolith dasteht, der aus sich selbst heraus lebt. Aber dann, wenn du anfängst, nur die Drums zu hören, nur die Snare oder Kickdrum, oder nur meine Gitarre, die ich vor 30 Jahren gespielt habe, und den Gesang solo, dann kommen all diese Erinnerungen hoch.
Und das hat dich dann direkt zurückversetzt, wo du mit Chris zusammen die Drums aufgenommen hast?
Andy: Ich war sofort wieder dort. Ich habe mich zurückversetzt gefühlt, als wäre ich in diesem Raum, wo alles damals seinen Anfang genommen hat. Es war eine richtige Welle an Nostalgie, die mich überrollt hat. Aber irgendwann musste ich mich natürlich auch auf eine objektive Metaebene begeben, um daran arbeiten zu können. Ich musste den Fokus darauf legen, das Album im Gesamtbild zu betrachten, und nicht nur als Gitarrist, der seine schönen Soli besonders laut hören wollte. Aber genau das ist es, was mir an der Arbeit über all die Jahre so viel Freude bereitet hat: den Songs den maximalen Ausdruck zu verleihen.
Es war eine Mischung aus Musik und Erinnerungen, die aufwog, als ich mich wieder in diese Zeit versetzte.
Du warst damals auch noch sehr jung, so um die 20, als Tapping The Vein rauskam. Und dann auch gleich ein echtes Brett. Du hast mal in einem Interview gesagt, dass die Fans entscheiden, was Kultur wird und was Kult ist, und nicht die Band selbst – und das stimmt ja auch. Bis heute ist das so. Hättest du damals gedacht, dass das so einschlägt?
Andy: Nein, auf keinen Fall. Sodom waren damals alles andere als Kritikerlieblinge. Tom ist inzwischen ein paar Jahre älter und mittlerweile absoluter Kult, der deutsche Lemmy sozusagen. Irgendwann wird aus Verwunderung Bewunderung. Aber damals waren wir wirklich keine Lieblinge der Presse, im Gegenteil. Wir waren die Fanlieblinge, und das war für uns auch viel wichtiger. Die Platte kam bei den Fans gut an, aber zu der Zeit wurde noch ordentlich über uns gelacht – immer diese blöden Wortspiele wie zum Beispiel „So dumm“ und so weiter. Das war damals wirklich der Tenor. Wir haben einfach die Platte gemacht, in der Hoffnung, dass sie den Fans gefällt. Und dass sich das Ganze dann über die Jahre so entwickelt hat, war natürlich nicht vorhersehbar.
„Agent Orange“ war auch ein Album von Sodom, das sehr viel Beachtung fand. Das Album kam vor „Tapping The Vein“ raus.
Andy: Klar, jeder redet immer über „Agent Orange“. Aber mit der Zeit merkt man, dass „Tapping the Vein“ fast genauso nah dran ist. Die Platte hat aus vielen Gründen die Herzen der Leute erobert. Sie gefällt einfach. Dann gab’s diese ungewollte, künstliche Verknappung, weil das Album nie wieder richtig veröffentlicht wurde. So ein bisschen wie ein seltener alter Ferrari, der auch mit der Zeit immer wertvoller wird. Und dann kommt noch das Cover dazu – das letzte Album mit Chris Witchhunter.
Was macht das Album so besonders, dass es sich über die Jahre zu einer Art Kult herauskristallisiert hat?
Andy: Was Tapping the Vein besonders macht, ist, dass viele der Songs, außer „Wachturm„, nie wieder live gespielt wurden, und es gab nie Merch dazu. Aber durch Social Media haben wir gemerkt, wie viele Leute dieses Album lieben und immer wieder fragen, wann es endlich mehr davon gibt. Ich gehe selbst oft auf Konzerte und werde ständig darauf angesprochen, was dieses Album den Fans bedeutet. Es ist wirklich spannend, wie so ein Werk ein Eigenleben entwickelt.
Ich bin selbst ein großer Kiss-Fan und meine Lieblingsplatten sind vielleicht auch nicht unbedingt die, die die meisten Fans hören. Aber jetzt haben wir es geschafft, dass Tapping the Vein nicht nur von den Fans, sondern auch von den Kritikern endlich die Liebe bekommt, die es verdient. Das Album war damals ein echter Brocken, voller Energie und ohne Kompromisse. Natürlich gab’s auch ein paar Fehler, die die Perfektion verhindern, aber über die Jahre hat sich alles verändert, und jetzt bekommt das Album die Anerkennung und die Liebe, die es immer verdient hat. Es ist wirklich toll, das hautnah mitzuerleben.
Als das alles offiziell wurde und die Promo begann, hast du gesagt, dass du quasi die treibende Kraft hinter der Veröffentlichung des Albums warst und den anderen ein bisschen auf die Sprünge geholfen hast. Wann genau hast du den Moment gehabt, in dem du gesagt hast, ich zitiere: ‚Jetzt ziehen wir den Daumen aus dem Arsch und machen das endlich‘?
Andy: Wir haben schon 2021 mit der Arbeit daran begonnen, es sollte eigentlich 2022 rauskommen, aber dann gab’s irgendwie geschäftliche Hürden. Zwei Jahre Funkstille, vor allem wegen vertraglicher Sachen, und jedes Mal, wenn ich in die Gruppe gepostet habe, kam keine Antwort. Das war natürlich frustrierend. Bei einer großen Plattenfirma wie BMG läuft es halt nicht immer nach unserem Zeitplan – da gibt es auch andere Projekte. Aber ich wollte das einfach nicht hinnehmen. Letztes Jahr war ich wirklich überzeugt, dass es nie mehr passieren würde, weil die Kommunikation einfach komplett eingeschlafen war. Aber dann hab ich beschlossen, selbst aktiv zu werden.
Im Januar dieses Jahr hab ich zu Tom gesagt: ‚Jetzt reicht’s! Das kann doch nicht so weitergehen!‘ Also hab ich selber zum Hörer gegriffen und gesagt: ‚Freunde, wir wollen das jetzt rausbringen – auch wenn wir das ohne euch machen müssen!‘ Ich hab einfach dafür gekämpft, dass es rauskommt. Das war eine harte Nuss, besonders weil Sodom ja auch noch aktiv ist und man das Veröffentlichungsdatum nicht mit einem neuen Sodom-Album kollidieren lassen wollte. Aber irgendwann hat es dann geklappt. Als BMG UK verantwortlich war, lief plötzlich alles ganz leicht. Der Typ dort war ein echter Enthusiast, ein Thrasher durch und durch. Die Zusammenarbeit war wirklich großartig – und das ist selten, nachdem man so viele Plattenfirmen-Erfahrungen gemacht hat wie ich. Jeder hat sein Wort gehalten, jeder hat das gemacht, was er versprochen hat. Und am Ende sind alle davon profitiert – vor allem die Fans, weil sie endlich das bekommen, was sie wollten: das Album, wie es sein soll. Ich war da ein bisschen die treibende Kraft, aber letztlich geht es nur, wenn alle mitziehen – Tom, die Plattenfirma, alle. Und ich bin schon stolz darauf, dass ich alle nochmal an den Tisch geholt habe. Aber wie gesagt, das funktioniert nur zusammen.
Du hast gesagt, dass du bei der Neuauflage einen etwas anderen Ansatz verfolgt hast und das Ganze noch intensiver und exklusiver gestaltet hast. Kannst du uns vielleicht erklären, wie sich die neue Version vom ursprünglichen Original unterscheidet?
Andy: Das Originalalbum ist natürlich immer noch dabei – in allen Konfigurationen, nur remastered, damit es besser zu den heutigen Hörgewohnheiten passt. Aber, ehrlich gesagt, meine Mutter wird den Unterschied wahrscheinlich nicht hören (lacht).
Musik wird heute einfach anders konsumiert, und das muss man audiotechnisch auch berücksichtigen.
Ich habe das Album selbst neu gemischt. Wir hatten zum Glück die Multitrack-Bänder, die wir schon 2011 digitalisieren ließen, weil wir damals schon überlegt hatten, es zum Jubiläum rauszubringen. Leider hat sich das dann ganz anders entwickelt. Das Material lag also zehn Jahre auf meinem Rechner. Ich wollte, wenn schon die Originalspuren da sind, einen zweiten Blick darauf werfen, aber nicht, um das Album besser zu machen oder Sachen zu korrigieren – ich wollte es einfach noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachten.
Ich nenne das immer „Sekundärliteratur“ – es ist im Grunde das gleiche Album, aber es gibt hier und da kleine Änderungen, zum Beispiel habe ich bei Reincarnation die originale Gesangsspur verwendet. Ich wollte das Album nicht perfekt machen, im Gegenteil, ich habe sogar Dinge beibehalten, die vorher nicht drauf waren, wie die Einzähler von Chris, der mit den Sticks oder der Hi-Hat eingezählt hat. Man hört das Band anlaufen, das kleine Rauschen, diese Details, die die Rohheit und die Authentizität des Originals wiedergeben.
Mein Ziel war es, dem Fan das Gefühl zu geben, als würde er die Tür zu einem Proberaum aufmachen und mitten in der Band stehen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir im Proberaum geklungen haben, bevor die Studiotechnik dazukam. Natürlich habe ich Studiotechnik angewendet, aber ich wollte keine Samples auf die Drums legen, damit es nach Sabaton klingt – das wollte ich auf keinen Fall. Und die Fehler, die wir gemacht haben, habe ich nicht rausgefiltert, sondern sogar ins Schaufenster gestellt. Das ist das, was das Album besonders macht.
Es hat diesen unperfekten Charme, der das wahre Wesen der Musik widerspiegelt.
Es ist wie bei den interessantesten Frauen – sie sind vielleicht nicht die perfekten Schönheiten, aber sie haben etwas Besonderes. Tapping the Vein hat auch so etwas Unperfektes, eine krumme Nase oder einen Silberblick, aber genau das macht es aus. Und das wollte ich nicht nur erhalten, sondern auch nach vorne stellen. Es sollte nicht in großen Hallen verschwinden, sondern dir direkt ins Gesicht explodieren. Es ist rau und ungeschliffen, und das ist der Charme.
Rau und ungeschliffen, das ist Sodom ja bis heute.
Andy: Am besten erlebt man den Remix tatsächlich mit Kopfhörern. Da knallt’s so richtig! Du hast das Gefühl, Tom steht nur zehn Zentimeter vor dir und spuckt dir quasi ins Gesicht, während er dich anschreit. Wenn das Gitarrensolo einsetzt, zieht’s dir die Plomben aus dem Gebiss, und der Double Bass tritt dir direkt in die Eier – volle Wucht. Und die Snare haut dir wie Terence Hill nonstop eine Ohrfeige nach der anderen, richtig schön brutal. Aber genau so muss das sein!
Ich wollte den Leuten zeigen, wie wir damals geklungen haben, roh und ungeschönt, mit all der Energie und Intensität, die uns ausgemacht hat.
Du hast vorhin erwähnt, dass wir Musik heute anders hören. Ich sag einfach mal ganz direkt, dass ich oft das Gefühl habe, dass Musik heute oft auf Perfektion getrimmt wird – alles klingt glatt, sauber, fast schon steril. Früher war Rock noch wild und individuell, jede Band hatte ihren eigenen Sound. Wie siehst du das? Und macht das vielleicht auch den Reiz dieser alten, unperfekten Aufnahmen aus?
Andy: Ja, genau. Früher hatte jede Band noch ihren eigenen Sound, weil man einfach gezwungen war, alles selbst zu entwickeln. Es gab keine vorgefertigten Gitarren-Profile oder Snare-Samples, die alle gleich klangen. Jede Band klang anders, und genau das hat diese Zeit so besonders gemacht. Ich erlebe das heute noch, wenn Fans, die damals jung waren, mir sagen, wie viel ihnen Alben wie Tapping the Vein bedeuten. Damals war alles roher und ungeschliffener. Unser Drummer Chris zum Beispiel hat seine Fills gespielt, bis die Toms ausgingen – das hatte so seine Eigenheiten, die heute fast undenkbar wären.
Aber genau diese kleinen und manchmal größeren Ungenauigkeiten geben der Musik Charakter. Das war live manchmal abenteuerlich, aber es war echt. Heutzutage ist vieles, wie du sagst, perfekt und glatt poliert. Das hat auch seine Berechtigung. Wenn du am Markt mithalten willst, musst du da mitspielen. Aber es fehlt oft diese ursprüngliche, ungezähmte Energie.
Wie siehst du die Entwicklungen in der Musikbranche im Hinblick auf Streaming, Social Media und moderne Produktionsmethoden? Würdest du sagen, dass die heutigen Möglichkeiten eher eine Bereicherung oder eine Herausforderung für Musiker sind?
Andy: Beides. Die Möglichkeiten, die es heute gibt, sind beeindruckend. Du kannst ein komplettes Album im Schlafzimmer produzieren, ohne je ein Studio zu betreten, und es klingt trotzdem konkurrenzfähig. Das ist ein unglaublicher Vorteil, vor allem für junge Künstler oder Bands. Gleichzeitig sollte man aber auch den Gegentrend pflegen: In ein echtes Studio gehen, in den Räumen arbeiten, die Luft und Atmosphäre mitkriegen.
Streaming hat seine guten Seiten. Ich verteufel das nicht. Ich habe immer meine komplette Plattensammlung dabei und kann Alben hören, die ich mir als Teenager nie leisten konnte. Klar, das finanzielle System dahinter ist noch nicht perfekt, aber es hat auch die Art verändert, wie wir Musik entdecken und konsumieren. Am Ende muss man einfach mit der Zeit gehen, sonst geht man eben mit der Zeit.
Vielen Dank Andy für deine Zeit.
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